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Wandervogel

Heesestraße 15

Der Wandervogel
Am 4. November 1901 gründeten im Steglitzer Ratskeller vier Studenten,
ein Lehrling und fünf angesehene Bürger den Verein „Ausschuss für
Schülerfahrten”. Weil dieser Name allzu nüchtern klang, gaben sie
ihm die poetische Bezeichnung „Wandervogel”. Damit griffen sie das
„Zauberwort” auf, das seit der Dichtung der Romantik die Sehnsucht
nach Abenteuer und Ferne ausdrückte. Aus diesen Anfängen einer
bildungsbürgerlichen Vereinsgründung entfaltete sich eine Jugend-
bewegung, wie sie Deutschland noch nicht gesehen hatte, mit Aus-
wirkungen auf die gesamte Jugendarbeit und Nachwirkungen bis heute.
Faszination einer Jugendkultur
Der Wandervogel entstand am Gymnasium Steglitz. So sieht es die
eigene Geschichtsschreibung. Richtig daran ist, dass die Vereinsgründer
Abiturienten oder Schülerväter dieser Lehranstalt waren und dass hier
eine Reihe reformpädagogisch engagierter Lehrer freie Initiativen von
Jugendlichen förderte. Vorläufer des Wandervogels in Steglitz war der
Schülerverein „Stenographia”, der mit selbst gewählten Führern und
ohne Aufsicht wanderte - ein unerhörter Vorgang in der autoritär
reglementierten wilhelminischen Gesellschaft. Tatsächlich bildeten
sich gleichzeitig an vielen Orten in Deutschland ähnliche Gruppen,
auch traditionelle Wander- und Jugendpflegevereine liefen zum
Wandervogel über. Der breitete sich innerhalb weniger Jahre im
gesamten deutschen Sprachraum aus.
Faszinierend am Wandervogel war die neue Art jugendlicher
Lebensformen, war vor allem das Erlebnis der Gemeinschaft in der
selbst gewählten Gruppe der Gleichaltrigen. Neu war die mehrtägige
bis mehrwöchige „Wanderfahrt” in möglichst freier Natur mit
spartanischer Lebensweise - eine deutliche Antihaltung gegen die
Verstädterung und Industrialisierung auch eine frühe Protestbewegung
gegen die Ausbeutung und Zerstörung des Planeten. Auffällig und
attraktiv wurde die Entwicklung einer subkulturellen jugendlichen
Ästhetik mit eigener Kleidung und eigenen Ritualen. Dazu gehörten
die Wiederentdeckung des Volksliedes und des Volkstanzes und die
romantisierende Hinwendung zu allem, was als „volkstümlich” galt.
Vielfältigen Austausch gab es bald mit der Lebensreformbewegung
und der Reformpädagogik.
Die Idee vom Eigenwert der Jugend
Der Wandervogel wurde getragen vom Jugendmythos der
wilhelminischen Epoche. Revolutionär, wie von Zeitgenossen gern
beschrieben, war diese Bewegung nicht, wohl aber jugend-
emanzipatorisch. Davon profitierten besonders Mädchen und junge
Frauen, die bald ihren Platz in der zunächst männerbündischen Szene
erkämpften. Der Bruch in der Geschichte dieser Jugendbewegung
kam mit dem Ersten Weltkrieg. Ihre patriotische Begeisterung trieb
die jungen Wandervögel freiwillig in die Schützengräben, wo die
Führerschaft grausam dezimiert wurde. Schon vor dem Krieg in
konkurrierende Gruppierungen zerfallen, organisierten sich die
Nachfahren des Wandervogels in der ideologisch sehr diffusen
„Bündischen Jugend” der Weimarer Republik.
Gemeinsam blieb allen Lagern die Vorstellung vom „Eigenwert der
Jugend” und der Glaube an die Weltverbesserung aus jugendlicher
Kraft. Die ursprüngliche Idee von der „Selbsterziehungsgemeinschaft”
wurde zum Allgemeingut der Jugendarbeit und der Pädagogik.
Winfried Mogge

Auf der rechten Seite der roten Stele befinden sich übereinander eine Abbildung und vier Fotos. Von oben nach unten: Wandervogel-Signet von Herrmann Pfeiffer, 1907/08; Steglitzer Schülerverein „Stenographia” im Grunewald, 1897; Auf der Landstraße, um 1904; Beim Tanz, 1918; Steglitzer Wandervogel, um 1920.
Konzeption und Gestaltung der Stele lagen bei Karin Rosenberg. Die Enthüllung auf dem an der Südendstraße gelegenen Schulhof des Gymnasiums Steglitz durch Bezirksbürgermeister Norbert Kopp war am 4.11.2011. Es sprach der Historiker Dr. Winfried Mogge.

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