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"Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle"

Unter den Eichen 82-84

Die “Rassenhygienische und bevölke-
rungsbiologische Forschungsstelle”
In der Zeit des Nationalsozialismus befand sich an diesem Ort als
Abteilung des Reichsgesundheitsamts die “Rassenhygienische und
bevölkerungsbiologische Forschungsstelle”.

Akteure und Arbeit der Forschungsstelle
Initiator und Leiter der Forschungsstelle war ab 1936 der Jugendpsychiater
und überzeugte Vertreter der NS-Rassenpolitik Robert Ritter (1901-1951).
Zu seinen engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zählte die Kranken-
schwester Eva Justin (1909-1966). Die Hauptaufgabe der Stelle bestand
im Erfassen und Erforschen von Sinti und Roma sowie dem Sammeln
personenbezogener Daten.
1936 im Zwangslager Berlin-Marzahn internierte Sinti und Roma gehörten
zu den ersten “Untersuchungsobjekten”, die Ritter und sein Mitarbeiterstab
genealogisch befragten und anthropologisch vermaßen. Bei den oftmals
erzwungenen Untersuchungen kam es zu Demütigungen und Misshand-
lungen. “Es kamen die Rassenforscher; die haben uns vermessen. Das
Gesicht, die Augen, die Haarfarbe usw. Dann haben sie uns Blut abgenom-
men.” (Der Zeitzeuge Peter Böhmer, Berlin 2009)
Die Forschungsstelle wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
finanziert und kooperierte mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,
menschliche Erblehre und Eugenik. Bei dessen vormaligem Leiter Eugen
Fischer (1874-1967) promovierte Justin 1943 mit einer Arbeit über Kinder
der Sinti, die nach Abschluss der Untersuchungen nach Auschwitz
deportiert und ermordet wurden.

Erfassung und Verfolgung
Gemäß der Rassenideologie galten Sinti und Roma wie Juden als
“artfremd” und wurden mit gesetzlichen und polizeilichen Maßnahmen
systematisch entrechtet. 1938 beauftragte der Reichsführer SS Heinrich
Himmler die Forschungsstelle, in Zusammenarbeit mit dem Reichssicher-
heitshauptamt die reichsweite Registrierung aller Sinti und Roma
durchzuführen.
Bis 1944 verfassten Ritter und sein Mitarbeiterstab etwa 24.000 “Gutachten”,
mit Empfehlungen zur Zwangssterilisation und Deportation. Nach dem
“Auschwitzerlass” Himmlers vom 16. Dezember 1942 begannen die
Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Insgesamt
wurden rund 500.000 Sinti und Roma Opfer der nationalsozialistischen
Rassenideologie.

Nach 1945
Ritter und Justin fanden nach 1945 im jugendpsychiatrischen Dienst der
Stadt Frankfurt/Main Anstellung. Ermittlungsverfahren gegen sie wurden
“aus Mangel an Beweisen” eingestellt. Ehemalige Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter nutzten Unterlagen der Forschungsstelle weiter und trugen
zur fortgesetzten Diskriminierung wie zur Ablehnung von Entschädigungs-
ansprüchen von Sinti und Roma bei.
Die offizielle Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer des Genozids
erfolgte erst 1982 durch Bundeskanzler Helmut Schmidt. 1988 erinnerte
erstmals eine Ausstellung vor Ort an die Rolle der Forschungsstelle und
des Reichsgesundheitsamts im Nationalsozialismus. 1995 wurde in der
Bibliothek des Gebäudes eine Gedenktafel angebracht, initiiert nach
einem Zeitzeugengespräch Otto Rosenbergs mit Lichtenberger Schülern
über sein Schicksal als Kind im Zwangslager Marzahn und Opfer dieser
“Rassenforscher”.
Judith Hahn

Rechts neben der Inschrift befinden sich übereinander fünf Abbildungen mit folgenden Unterschriften (v.o.n.u.):
Kaiserliches Gesundheitsamt,
Übersichtsplan 1903/08,
Unter den Eichen 82-84,
ab 1919 Reichsgesundheitsamt

Robert Ritter (rechts) und ein
Mitarbeiter nehmen einer Sintezza
im Freien Blut ab, um 1936

Bestimmung der Augenfarbe einer
Sintezza in der Forschungsstelle,
um 1939

Gutachten der Forschungsstelle,
unterschrieben von Robert Ritter,
1942

Einweihung einer Gedenktafel in der
Bibliothek des ehemaligen
Reichsgesundheitsamtes, 1995,
links Otto Rosenberg, Vorsitzender
des Landesverbands Deutscher Sinti
und Roma Berlin-Brandenburg

Konzeption und Gestaltung der Stele lagen in den Händen von Karin Rosenberg. Eingeweiht wurde sie genau an der Ecke von Unter den Eichen und Boetticherstraße am 29.3.2019. Zu diesem Anlass sprachen der Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin, Ralf Wieland, die Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, Petra Rosenberg, und Bezirksstadtrat Frank Mückisch.

Der Verbleib der am 11.12.1995 in Haus 3, der seinerzeitigen Bibliothek, enthüllten Bronzetafel ist unklar.

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