Der Berliner Hostienschändungsprozess von 1510
Karl-Liebknecht-Straße 8
Am 19. Juli 1510 wurden hier, auf dem dama-
ligen Neuen Markt, 41 Juden aus Berlin und
der Mark Brandenburg in einem Schauprozess
zum Tode verurteilt.
Ein christlicher Bernauer Kesselflicker, der eine
Kirche im damaligen Dorf Knoblauch bei Nauen
ausgeraubt hatte, behauptete nach Androhung
von Folter, eine gestohlene Hostie an einen Juden
aus Spandau verkauft zu haben. Letzterer wurde
unter Folter gezwungen, zu sagen, die Hostie
geschändet zu haben. Hinzu kam die jahrhun-
dertealte Unterstellung des Ritualmordes:
Juden hätten christliche Kinder getötet und ihr
Blut für religiöse Zwecke verwendet.
Der von Kurfürst Joachim I. angeordnete Prozess
war ein öffentliches Spektakel: Schöffen,
Richter und Angeklagte befanden sich weithin
sichtbar auf einem dreistöckigen Holzgerüst.
Die jüdischen Angeklagten trugen außerdem „Ketzerhüte“.
38 der zum Tode verurteilten Juden wurden
außerhalb der Stadtmauern, unweit des heu-
tigen Strausberger Platzes, vor den Augen von
Schaulustigen bei lebendigem Leibe verbrannt.
Auf Anordnung des Kurfürsten mussten alle
anderen Berliner und märkischen Jüdinnen
und Juden die Region verlassen.
Erst über 20 Jahre später wurde es Juden und
Jüdinnen wieder erlaubt, sich beruflich in der
Region aufzuhalten. Seit 1543 durften sich zu-
nächst einzelne erneut ansiedeln.
Knapp vierhundert Jahre später, 1935, stiftete
der Berliner Rabbiner Dr. Martin Salomonski
eine Gedenktafel für die Opfer des Schau-
prozesses an der Außenwand der Synagoge des
jüdischen Altersheims an der Lietzmannstraße
19–21, unweit der heutigen Mollstraße. Dort
sollen die Überreste der Hingerichteten auf
einem früheren jüdischen Friedhof bestattet
worden sein. 1988 wurde die Tafel in einen Gedenkstein integriert.
The Berlin Host Desecration Process
On 19 July 1510, 41 Jews from Berlin and the
Margraviate of Brandenburg were sentenced
to death in a show trial here at the former
New Market.
A Christian tinker from Bernau who had robbed
a church in the former village of Knoblauch
near Nauen claimed, after being threatened
with torture that he had sold a stolen Host to a
Jew from Spandau. The latter was forced to con-
fess under torture to have desecrated the Host.
To this accusation was added the centuries-old
insinuation of ritual murder: Jews had killed
Christian children and used their blood for
religious purposes.
The trial ordered by Joachim I, Prince-Elector of
the Margraviate of Brandenburg, was a public
spectacle: jurors, judges and defendants were
situated on a three-storey wooden scaffolding
and were visible from afar. The Jewish defen-
dants were moreover forced to wear “heretic
hats”.
38 of the Jews who were sentenced to death
were burned alive, surrounded by onlookers,
outside of the city walls near the present-day
Strausberger Platz.
By order of the Elector, all other Jews from Berlin
and the Margraviate had to leave the region.
Twenty years later, Jews were first allowed to
return to the region professionally. From 1543
on, individual Jews were allowed to settle there.
Almost four hundred years later, in 1935, the
Berlin rabbi Dr Martin Salomonski donated a
memorial plaque for the victims of the show
trial. It was installed on the outer wall of the
synagogue of the Jewish old age home in
Lietzmannstrasse 19-21, near the present-day.
Mollstrasse. There, it is assumed, the remains
of the executed Jews had been buried in a
former Jewish cemetery. In 1988 the plaque
was integrated into a memorial stone.
Auf Initiative des Bezirksamts Mitte wurde im Jahr 2021 eine Historische Informationstafel des Landes Berlin zur Erinnerung an den Schauprozess des Jahres 1510 errichtet. Den Text verfasste Thomas Irmer, Historiker, in Zusammenarbeit mit Nathan Friedenberg, Mitte Museum und Hermann Simon, Historiker und Gründungsdirektor der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“. Die Gestaltung der Tafel lag bei Helga Lieser. Zur Enthüllungsfeier am 19. Juli 2021 sprachen Klaus Lederer, Bürgermeister und Senator für Kultur und Europa, Sabine Weißler, Bezirksstadträtin für Weiterbildung, Kultur, Umwelt, Natur, Straßen und Grünflächen, Hermann Simon sowie Salomea Genin. Karsten Troyke sorgte für musikalische Untermalung.
Am 19. Juli 1510 wurden auf einem dreistöckigen Scheiterhaufen am heutigen Strausberger Platz 38 Juden verbrannt – unter begeisterter Teilnahme der Berliner Bevölkerung und nach einem Schauprozess auf dem Neuen Markt an der Marienkirche, der überregionale Aufmerksamkeit erregte und schließlich die Vertreibung aller Jüdinnen und Juden aus Brandenburg nach sich zog. Dieses Ereignis wurde als sogenannter Berliner „Hostienschänderprozess“ gegen Berliner und Brandenburger Juden bekannt. Diese wurden beschuldigt, einen christlichen Kesselflicker aus Bernau angestiftet zu haben, aus der Kirche des havelländischen Dorfes Knoblauch eine vergoldete Monstranz sowie eine Messingbüchse mit Hostien zu stehlen. Die gestohlenen Hostien hätten, so die Anklage, die Juden schließlich misshandelt. Durch Folter erzwungene falsche Geständnisse zogen immer mehr Juden in den Kreis der Beschuldigten. Gegen 51 Juden aus Brandenburg einschließlich Berlin kam es schließlich zur Anklage, 41 Juden von ihnen sowie der Kesselflicker wurden am 19. Juli 1510 auf dem Neuen Markt in Berlin (heutige Gegend um die Marienkirche) zum Tode verurteilt. Die restlichen zehn haben wahrscheinlich die Folter nicht überlebt oder begingen Suizid. 38 Juden wurden am gleichen Tage auf einem dreistöckigen und sechs Meter hohen Scheiterhaufen vor der Stadt (heute Strausberger Platz) unter Teilnahme zahlreicher Bewohnerinnen und Bewohner sowie weiterer Schaulustiger verbrannt. Zwei zum Christentum übergetretene Personen starben durch Enthauptung, ein als Augenarzt tätiger Jude überlebte durch Begnadigung.
Das Gedenken an den Pogrom gegen die Brandenburger und Berliner Juden von 1510 ist durch den jahrhundertelang anhaltenden Antijudaismus geprägt / verhindert worden. Peter Beuth (ehemaliger Namensgeber der Berliner Hochschule für Technik) legitimierte noch Anfang des 19. Jahrhundert die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus Brandenburg mit Verweis auf den Hostienschändungsprozess von 1510, übernahm die antijüdischen stereotypen Vorwürfe des Ritualmordes und der Hostienschändung und verhöhnte die Opfer des Verbrechens auf erschütternde Weise. Noch um 1900 wurden im Dom von Brandenburg einige Messer, mit denen die angeklagten Juden im Jahre 1510 die Hostie durchstochen haben sollen, aufbewahrt und den Besucherinnen und Besuchern des alten Bauwerks gezeigt. 1935 schließlich setzte der Rabbiner Dr. Martin Salomonski (1881–1944) ein mutiges Zeichen und ließ eine Gedenktafel am damaligen Jüdischen Altersheim Lietzmannstraße / Ecke Landwehrstraße anbringen, die an die Verfolgung von 1510 in hebräischer Schrift mit folgendem Text erinnerte: „Hier ruhen die heiligen Gebeine der Mitglieder unserer ersten Gemeinde in Berlin. Sie wurden als Märtyrer ermordet und verbrannt am 12. Aw 5270.“ Die Ruine des jüdischen Altersheims Lietzmannstraße wurde nach dem Zweiten Weltkrieg abgeräumt, die Gedenktafel geborgen und der Jüdischen Gemeinde übergeben. Etwa 200 m entfernt vom ehemaligen Altersheim wurde die Gedenktafel 1988 neben dem Hause Mollstraße 11 in einer Grünanlage aufgestellt und um eine bronzene Tafel mit folgendem Text ergänzt: „Im Jahre 1510 wurden 38 Berliner Juden wegen angeblicher Hostienschändung verbrannt. Ihre Gebeine sind hier bestattet.“ Der Hostienschändungsprozess wurde erst spät aufgearbeitet und Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Abhandlungen seit den späten 1980er Jahren. Das Jüdische Museum Berlin zeigte vergrößerte Holzschnitte aus einer Flugschrift, dem Sumarius, in seiner Dauerausstellung, und unter dem Titel „Das Verhängnis der Mark Brandenburg – Der Hostienschändungsprozess von 1510“ hat das Stadtgeschichtliche Museum Spandau im Zeughaus der Zitadelle in Zusammenarbeit mit dem Centrum Judaicum und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte 2010 eine Ausstellung präsentiert und eine dazugehörige Publikation erstellt.
Die Historische Informationstafel befindet sich unweit der St. Marienkirche in Berlin Mitte. Auf der Rückseite der Tafel ist die englische Übersetzung des Textes zu lesen.
Bildunterschriften:
Urteilsverkündung vor der Marienkirche
Sumarius, Frankfurt/Oder, 1511
Verein für die Geschichte Berlins e.V.
Hinrichtung der Verurteilten auf einem Scheiterhaufen vor den Toren der Stadt (heute in der Nähe des Strausberger Platzes)
Sumarius, Frankfurt/Oder, 1511
Verein für die Geschichte Berlins e.V.
Gedenkstein an der Mollstraße 11
Text der hebräischen Aufschrift: Hier ruhen die Gebeine der Gerechten der Mitglieder unser alten Gemeinde Berlin, welche am zwölften Tag des Monats Av des Jahres 5270 [19. Juli 1510, julianischer Kalender] zur Heiligung Seines Namens ermordet und verbrannt wurden. Mëir, Sohn des Herrn Avraham Salomonski, setzte diesen Grabstein auf ihre Ruhestätte im Jahre 5695 [1935].