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Zehlendorfer Dächerkrieg

Wilskistraße

Zehlendorfer Dächerkrieg
Ungeliebter Siedlungsbau
Flache Dächer statt Villen
Der Straßenzug „Am Fischtal”, heute geprägt von Grün und guter
Nachbarschaft, war bei seiner Bebauung Schauplatz einer beispielhaften
Auseinandersetzung über zukunftstauglichen Siedlungsbau und die
politische Aussage von Architektur. Die gewerkschaftlich orientierte
Baugesellschaft Gehag (Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-
Aktiengesellschaft, gegründet am 10. April 1924) erwarb 1926 das
Land links und rechts der Argentinischen Allee. Unter der Leitung des
Architekten Bruno Taut zusammen mit Hugo Häring und Otto Rudolf
Salvisberg wurde die moderne Wohnsiedlung „Onkel Toms Hütte”
geplant. Es sollten bezahlbare Zeilenbauten mit Mietwohnungen und
Reihenhäuser mit flachen Dächern entstehen. Das Projekt war innerhalb
des Bezirks unbeliebt. Von der Ansiedlung von Menschen, die nicht
dem Zehlendorfer Bildungs- und Großbürgertum angehörten und von
Bauten, die nicht der Villenbebauung am Schlachtensee entsprachen,
hielt man nichts. Trotz Ausschöpfung der rechtlichen Mittel und der
nur unwilligen administrativen Abwicklung durch den Bezirk, aber nach
massiver Intervention des Berliner Stadtbaurates Martin Wagner,
konnte die Gehag ab 1926 die Siedlung bauen. Nach Südosten schließt
die Siedlung mit Reiheneinfamilienhäusern in der Straße Am Fischtal
ab. Diese Häuser sind alle mit flachen Dächern ausgestattet.
Spitzdach statt Neues Bauen
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite baute annähernd gleichzeitig
die Gagfah (Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-/Heimstätten, gegründet am 14. August 1918) die sogenannte Versuchs-
siedlung Am Fischtalgrund, die vom 1. September bis 31. Oktober
1928 als Ausstellung „Bauen und Wohnen” zu besichtigen war. Kleine
Einfamilienhäuser und Wohnungen für besser verdienende Angestellte
waren mit spitz zulaufenden Satteldächern von Architekten wie Paul
Schmitthenner, Hans Poelzig u.a. unter der Federführung von Heinrich
Tessenow errichtet worden. Die Verwendung traditioneller Dachformen
war Teilnahmebedingung für die beauftragten Architekten.
Architektur der Lebensstile
Am Fischtal stehen sich aber nicht nur unterschiedliche Gestaltungen
gegenüber. Die Auseinandersetzung zwischen den Architekten des
Neuen Bauens und den Konservativen war politisch. Die Dachform
war Sinnbild für unterschiedliche Lebensstile. Die Gegner des
Spitzdaches sahen in ihm das Symbol für die Sehnsucht nach einer
dörflichen Idylle, der Verweigerung der urbanen Gegenwart mit
drängender Wohnungsnot und ein Beispiel für flächenraubendes
Bauen. Die Gegner des flachen Daches sahen in ihm einen „südländ-
ischen” [!] nicht in diesen Kulturkreis gehörenden Baustil, der als „nach
Palästina” oder „Arabien” [!] gehörend bezeichnet wurde. Für den späteren
Nationalsozialisten Paul Schmitthenner war die Frage Flachdach oder
Spitzdach auch ein Kulturkampf. Hier stand die seiner Meinung nach
höherwertige nordisch-heimatliche Kultur gegen die vermeintlich
geringerwertigen südlichen Kulturen.
Heute stehen ähnliche Siedlungen von Bruno Taut für die Gehag
– z.B. in Britz – auf der Unesco-Liste des Welterbes.
Einmalige Konfrontation
Auch in anderen Städten gibt es beide Architekturpositionen. Aber
nirgends stehen sich die bestimmenden architektonischen Ideologien
der Weimarer Republik so gegenüber wie hier „Am Fischtal” – beim
Zehlendorfer Dächerkrieg.
Sabine Weißler

Auf der rechten Seite der roten Stele befinden sich sieben Fotos. Diese zeigen von oben nach unten: Eine Luftaufnahme der Siedlungen der Gehag und der Gagfah von 1930; Ein Doppelhaus von Salvisberg; ein Foto von Bruno Taut, 1933; ein Foto von Hugo Häring, um 1930; ein Foto von Otto Rudolf Salvisberg, 1928; ein Doppelhaus von Schmitthenner um 1930, ein Foto der Straße Am Fischtal um 1930. Ganz unten sind wie auf allen bisherigen Erinnerungsstelen die Signets des Kulturamts Steglitz-Zehlendorf sowie der Aktion "Erinnern für die Zukunft" des Bezirks. Die Konzeption und Gestaltung der Stele lag bei Karin Rosenberg.

Die Einweihung fand am 14.10.2009 in Anwesenheit von Bezirksstadträtin Cerstin Richter-Kotowski und der Leiterin des Kulturamts, Sabine Weißler, statt. Die Gedenktafel befindet sich an der Ecke von Wilskistraße und Am Fischtal.

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