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Taube Jüdinnen und Juden

Taube Jüdinnen und Juden

Rosenstraße 16

TAUBE JUDEN IM NATIONALSOZIALISMUS
Hier in der Rosenstraße 2-4 befand sich der Sitz
des »Vereins zur Förderung der Interessen der
israelitischen Taubstummen Deutschlands«. Der
1896 gegründete Zusammenschluss wollte die in
Deutschland lebenden jüdischen Gehörlosen wirt-
schaftlich, religiös und kulturell fördern. In den
40 Jahren seines Bestehens bis zur Auflösung
durch die Nationalsozialisten 1936/37 hatte
der Verein drei Vorsitzende: Willy Oppenheimer
(1896-1904), A. Königsberg (1905) und Erwin Kaiser (1906-1936).
1934/35 verlor die Gehörlosen-Vereinigung im Zuge der »Gleichschaltung«
ihre Selbständigkeit und wurde schließlich zwangsweise in die »Zentralwohl-
fahrtsstelle der deutschen Juden« eingegliedert.
Vor der Machtübernahme durch die National-
sozialisten im Januar 1933 war Berlin ein
Zentrum taub-jüdischen Lebens. Es gab
verschiedene Vereine für gehörlose Juden
mit Sport- und Jugendgruppen, eine Schule,
eine Zeitschrift, ein Altersheim mit eigener
Synagoge, in der Gottesdienste in Gebärden-
sprache abgehalten wurden. Taube Juden
kamen aus aller Welt, um die »ITA«, die
Israelitische Taubstummen-Anstalt in Berlin-
Weißensee zu besuchen. Dieser internatio-
nalen, multikulturellen und vielsprachigen
Gemeinschaft setzten die Nationalsozialisten gewaltsam ein Ende. Viele
gehörlose Juden wurden in Konzentrationslager deportiert und ermordet.
Nur wenige überstanden die nationalsozialistische Verfolgung. Sie konnten
rechtzeitig auswandern oder untertauchen. Einzelne überlebten sogar die
KZ-Haft. Das Vermögen ihrer Vereine, unter anderem aus Immobilienbesitz,
kam nicht wieder den tauben Juden zugute.
Gehörlose Juden werden als »doppelte Minderheit«
zweifach diskriminiert: Einerseits sind sie wegen
ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Kultur dem
immer noch vorhandenen Antisemitismus der
Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt; andererseits
werden sie als Taube im traditionellen jüdischen
Menschenbild zu Unmündigen degradiert. Bis
heute ist der Alltag gehörloser Juden in Deutsch-
land durch die Zerstörung ihrer Gemeinschaft
im Nationalsozialismus bestimmt.
Als Zeichen für ein selbstbestimmtes Leben,
kulturelle Autonomie und gesellschaftliche Vielfalt
soll an der Rosenstraße 2-4 ein Denkmal für die tauben Juden entstehen.

DEAF JEWS UNDER NATIONAL SOCIALISM Rosenstrasse 2-4 was the seat of the
Verein zur Förderung der Interessen der israelitischen Taubstummen
Deutsch-
lands: an association for the promotion of the
interests of the Israelite Deaf-mutes in Germany.
Founded in 1896, it sought to promote economi-
cally, culturally and religiously the Deaf Jews
living in Germany.
In the forty years of its existence, until its dis-
solution by the National Socialists in 1936-37,
the association had three presidents: Willy Oppen-
heimer (1986-1904), A. Königsberg (1905) and
Erwin Kaiser (1906-1936). In 1934-35, the associ-
ation for the Deaf was deprived of its indepen-
dence in the wake of Gleichschaltung (enforced
political conformity at all levels of society) and
was at last incorporated forcibly into the German Jewish welfare agency.
Before the Nazis came to power in January 1933, Berlin was a centre of
Deaf Jewish life. There were various associations for Deaf Jews with sports
and youth clubs, a school, a magazine, and an old-peoples’ home with
its own synagogue, where services were held in
Sign language. Deaf Jews arrived from all over
the world to visit the ITA, the Israelite institute
for the Deaf-mutes in the district of Berlin-
Weißensee. The Nazis violently put an end to
this international, multicultural and multilingual
community.
Many of the Deaf Jews were deported to con-
centrations camps and murdered. Very few survived
National Socialist persecution. They could either
emigrate before it was too late, or go into hiding.
Some even survived the concentration camps.
The Deaf Jews, however, no longer benefited from
their associations’ assets, which were derived
partly from real estate. Deaf Jews, as a ”double minority”, were subject to
discrimination in two ways: on the one hand, because their affiliation to
Jewish culture exposed them to still prevalent anti-Semitism of the majority
society; on the other hand, being Deaf, they were degraded - in the
traditional Jewish view of human beings - to the status of minors. Even now,
the everyday life of Deaf Jews in Germany is marked by the destruction of
their community unter National Socialism.
Symbolising a self-determined life, cultural autonomy and societal diversity,
a monument for Deaf Jews is to be created in Rosenstrasse 2-4.

Initiiert wurde die Stele vom Vorsitzenden der Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung in Deutschland e.V., Mark Zaurov, der auch den Text verfasste. Auf der rechten Seite sind übereinander vier Bilder, die im Text mit den Ziffern 1 bis 4 markiert sind. Sie zeigen 1. das Haus Rosenstraße 2-4 „Erbaut 1905", 2. den Vorsitzenden Willy Oppenheimer „1873-1961", 3. den Vorsitzenden Erwin Kaiser „1880-1943" und 4. die Ausgabe Nr. 8/1934 der Verbandszeitschrift „Das Band" (mit dem Anfang des Nachrufs auf den verstorbenen Reichspräsidenten Hindenburg).
Zwischen Bild 1 und 2 ist - weltweit einzigartig - ein Bildschirm integriert, auf dem auf Abruf wahlweise in deutscher und internationaler Gebärdensprache die Inhalte der Stele vermittelt werden. Gestaltet wurde sie von Helga Lieser, die die Stele gemeinsam mit Kulturstaatssekretär André Schmitz, Mark Zaurov und dem Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, Lars Ernst, am 25.11.2013 am Durchgang der Rosenstraße zur Karl-Liebknecht-Straße enthüllte. Aufgestellt wurde die Stele im Rahmen des Themenjahres „Zerstörte Vielfalt". Sie erlitt jedoch einen erheblichen Wasserschaden und musste 2018 demontiert werden. Die Stele wurde neu produziert und im September 2020 nur wenig entfernt vom ursprünglichen Standort auf dem Bürgersteig vor dem Haus Rosenstraße 16 neu aufgestellt.

Erwin Kaiser (Morgenroth/Oberschlesien [Chebzie/Polen] 25.6.1880) wurde am 3.3.1943 aus Berlin nach Auschwitz deportiert. Willy Oppenheimer überlebte dank seiner nicht-jüdischen Ehefrau.

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