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Jüdische Bauschule

Straße der Pariser Kommune

Die Jüdische Bauschule
The Jewish Building School
An dieser Stelle stand bis 1971 das Haus Fruchtstraße 74.
Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, beherbergte es
zwei Mietwohnungen und im Erdgeschoss Büroräume.
1925/26 erwirbt die Jüdische Gemeinde zu Berlin das
Grundstück. Nach der Machtübernahme der National-
sozialisten 1933 beginnt die Verfolgung der deutschen
Juden. Sie werden zu Fremden gemacht und aus dem
Land gedrängt. Um junge Männer auf einen Aufenthalt
in Palästina vorzubereiten, betreibt die Gemeinde
zwischen 1937 und 1941 in zwei jeweils 144 m² großen
Lagerhallen auf dem Hof der Fruchtstraße 74 einen
»Umschulungslehrgang für auswanderungswillige Juden in
Bau- und Siedlungsarbeiten (Maurer)«. Leiter der Ein-
richtung ist bis 1938 der Regierungsbaumeister im Ruhe-
stand Herz. Er betreut 34 »Lehrlinge«. Im Frühjahr 1941
lernen hier 45 Umschüler unter Architekt Willi Holz. Im
Herbst des Jahres - kurz vor Beginn der Deportationen
in den Osten - muss die Jüdische Gemeinde die Gebäude
weit unter Wert verkaufen. Einige der Lehrlinge werden
zur Zwangsarbeit für das SS-Reichssicherheitshauptamt
eingesetzt. Das Schicksal der Anderen ist ungeklärt.
Das Haus übersteht den Zweiten Weltkrieg weitgehend
unbeschädigt. 1952 sind hier ein Röhrengroßhandel
und ein Leiterhersteller ansässig. Anlässlich des 100.
Jahrestages der Pariser Kommune erhält die Straße am
17. März 1971 ihren heutigen Namen. Nach dem Abriss
fast aller historischen Gebäude entstehen in den folgen-
den Jahren moderne Wohnbauten.

Until 1971, a late 19th century building stood here at
Fruchtstrasse 74. It housed two rental apartments as
well as offices on the ground floor.
In 1925-26 the Jewish Community of Berlin purchased
the property. Following the National Socialist rise to
power in 1933, the persecution of German Jews began.
They were deemed outsiders and forced to leave the
country. In order to prepare young men for emigration to
Palestine, the Jewish Community organised »retraining
courses in construction and settlement work (masonry)
for prospective Jewish emigrants« in the two ware-
houses, each 144 m², in the courtyard of Fruchtstrasse 74
between 1937 and 1941. Until 1938, the facility was led
by the retired government master builder Mr. Herz. He
was responsible for 34 »apprentices«. In early 1941, 45
course participants studied under architect Willi Holz.
In autumn 1941 - shortly before the deportations to the
East began - the Jewish Community was forced to sell
the building well below value. Some of the apprentices
were deployed as forced labourers by the SS Reich Main
Security Office. The fates of the others remain unknown.
The building survived the war more or less intact. In 1952,
it housed a pipe wholesale and a ladder workshop.
The street received its current name on March 17, 1971,
on the 100th anniversaryof the establishment of the
Paris Commune. Almost all historic buildings on this
site were torn down in the 1970s and replaced by modern
residential buildings.

Neben dem Text befinden sich auf der rechten Seite untereinander fünf Fotos. Die Bildunterschriften lauten (v.o.n.u.):
Am 27. März 1952 dokumentiert der Fotograf Fritz Tiedemann
(1915-2001) die Fruchtstraße im Auftrag des Magistrats von
Groß-Berlin. | On March 27, 1952, photographer Fritz Tiedemann
(1915-2001) documented the Fruchtstrasse for the Migistrate of
Greater Berlin


Polier Arthur Michelsohn (1887 - von der Gestapo am 1. Mai
1945 erschossen) und »Lehrling« Walter Frankenstein bei der Arbeit, 1939
Foreman Arthur Michaelsohn (1887 - shot by Gestapo on May 1, 1945)
and »apprentice« Walter Frankenstein at work, 1939


Im Hof der Jüdischen Bauschule, Fruchtstraße 74, 1939, fotografiert
von Walter Frankenstein (*1924) | In the courtyard of the Jewish Con-
struction School, 1939, photographed by Walter Frankenstein (*11924)


Fruchtstraße Nr. 74, März 1971
Fruchtstrasse no. 74, March 1971


Alt- und Neubauten an der nunmehrigen Straße der Pariser
Kommune, 16. Juni 1971 | Old and new buildings on what is
now the Paris Commune Street on June 16, 1971


Die Gedenkstele “entstand auf Initiative des Holocaustüberlebenden Walter Frankenstein” und wurde gestaltet von Helga Lieser. Den Text lieferte die “Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas”. Die Enthüllung fand am 15.5.2017 statt. Es sprachen der Bürgermeister und Senator für Kultur und Europa, Dr. Klaus Lederer, Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, und als Zeitzeuge Walter Frankenstein, der von seinem Wohnort Stockholm nach Berlin gekommen war. Unter den Anwesenden befand sich auch Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau. Die Stele steht unweit der Lange Straße am Rand des breiten Grünstreifens in Höhe von Haus Nr. 11, gegenüber von Haus Nr. 18.


Der englische Text hebt sich nur schwach vom Untergrund ab und ist deshalb schwer lesbar.
Jüdische Bauschule war eine inoffizielle Bezeichnung für den Ort, an dem der Umschulungslehrgang durchgeführt wurde.
Ein Regierungsbaumeister Dr. Ing. Rudolf Herz ist im Adressbuch bis 1937 angegeben mit der Adresse Zehlendorf, Sachtlebenstraße, Herz’sches Haus, in den beiden Folgejahren dann nur noch als Architekt, Halensee, Johann-Georg-Straße 6, und ab 1940 nicht mehr. Sein weiterer Verbleib, ob ihm noch die Emigration gelang, war nicht zu ermitteln.
Arthur Michelsohn (*19.9.1887) wurde am 1. Mai 1945 zusammen mit drei weiteren jüdischen Männern von Gestapo- oder SS-Angehörigen aus dem Haus Neue Königstraße 87 (heutiger Standort Otto-Braun-Straße 86/88) verschleppt und ermordet. An diesem Haus befanden sich vor dessen Abriss nacheinander zwei Gedenktafeln für die ermordeten Juden. Beide sind wiedergegeben bei den biographischen Angaben und Fotos zu Michelsohn unter https://www.stolpersteine-berlin.de/de/otto-braun-strasse/86-88/arthur-michelsohn (zuletzt abgerufen am 20.1.2023).
(Hierzu s. a. in diesem Verzeichnis unter Opfer des Nationalsozialismus, Neue Königstraße 87.)

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